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Mancinis Scharfblick

Todessehnsucht am Wochenende

30. Juni 2019 , Geschrieben von Claudio Michele Mancini

Jeder Autofahrer weiß Bescheid, wenn er das Stichwort „Hobby-Rennradler“ liest, und jedem Leser tritt der Angstschweiß auf die Stirn, wenn er in einer landschaftlich bevorzugten Region lebt und seine Oma beispielsweise samstags bei schönem Wetter im benachbarten Unterschönmattenwag oder in Dietramszell zur Kaffeefahrt abholen will.

Gleiches gilt natürlich auch für Mutti, die ausnahmsweise mit dem SUV ihres gut verdienenden Gatten am Samstag so gegen 14 Uhr noch schnell zu Edeka muss, weil sie noch ein paar Kleinigkeiten für den Grillabend benötigt. Ein halsbrecherisches Anliegen, wenn der Supermarkt in der Nähe vom Tatzelwurm oder Gemsenried an einem kurvenreichen Sträßchen entlang eines romantischen Waldrandes oder in einer Steilpassage mit zwei Spitzkehren und schönen Aussichtslagen liegt. Denn dann müssen Mutti oder Rentner Erich, der seinem Dackel an einem nahegelegenen Weiher ausführen möchte, mit dem Schlimmsten rechnen.

 

Tassilo von Hirntot-Schöngeist, seines Zeichens Großkundenberater bei der Commerzbank, frönt wie so viele seiner Kollegen mit gut bezahlten Schreibtischjobs und wenig Freizeit einer Leidenschaft, die man inzwischen getrost als Epidemie oder Wochenend-Heimsuchung bezeichnen kann. Punkt 9 Uhr 17 zwängt sich Tassilo trotz erheblicher Leibesfülle unter maximaler Anstrengung  in den hautengen Tour-de-France-Rennanzug, der zwar seine teigweiche Wohlstandswampe ein wenig kaschiert, zum Ausgleich aber seine männlichen Preziosen besonders auffällig zur Geltung bringen. Kaum hat sich der Manager in eine bunte Presswurst verwandelt, wird der Blick zielgerichteter, sein vorgeschobenes Kinn entschlossener und wie durch ein Wunder strömen überirdische Kräfte in dessen Oberschenkel. Jetzt ist er mental vorbereitet.

 

Sodann streift er sich den aerodynamisch optimal gestylten Fahrradhelm der Marke „Alpina Spezial“ über, schlüpft in die Klick-Schuhe „Genius 7 Mega“, rückt die Rayban-Brille zurecht und zurrt sein Rennrad auf dem Dachträger seiner Luxuskarrosse fest. Bestens präpariert startet Tassilo im Bewusstsein, es mindestens mit den Profis des Hauptfeldes einer international besetzten Radrenn-Veranstaltung aufnehmen zu können in Richtung Tölzer Land, obwohl er objektiv gesehen, nicht einmal zu Fuß den Nockerberg in München ohne Gesundheitsschäden bewältigen würde. Dennoch - das Gefühl nachhaltiger Überlegenheit auf zwei Rädern steigt proportional mit dem Preis des Rennrades und des Outfits, was Fahrradhändler nicht nur ihren Kunden erfolgreich vermitteln, sondern auch zu schätzen wissen. Helmkamera, digitaler Pulsfrequenzmesser, binomär gesteuerter Hirnausfallmanometer mit Touchscreen und Instagram-Vernetzung sind unverzichtbare Begleiter für die kommenden Etappensiege. Fehlt nur noch die richtige Herausforderung.

 

Um 13 Uhr 30 trifft Tassilo mit mindestens 7 Freunden am Ausgangspunkt seines suizidalen Vorhabens ein.  Die Rampe, die man sich für heute vorgenommen hat, beinhaltet mindestens 19 Serpentinen mit Steigungs- und Gefälle-Anteilen bis zu 22 Prozent. Das Sträßchen führt zum Teil durch beschauliche Dörfer, in denen harmlose Einwohner leben und mit ihren Corsas, Mazdas und Mitsubishi-Combis ihren täglichen Erledigungen nachgehen. Selbstredend mischen sich unter die Legionen der unter Muskelschwund leidenden Wochenend-Masochisten auch normal Ausflügler, die der erdrückenden Zumutung hundsteurer Mietwohnungen entfliehen und am Samstag just zur gleichen Zeit auch einmal eine grüne Wiese mit Butterblumen besichtigen wollen.

 

Während Tassilo aus dem Augenwinkel gleich nach der zweiten Serpentine auf dem Fitnessarmband einen Puls von 180 wahrnimmt, und wegen eines entkräfteten Schlenkers nach links beinahe vom entgegenkommenden Rentner Erich mit seinem Honda Civic auf die Hörner genommen wurde, drohen die nachfolgenden Kanarienvögel auf Rädern mit geballten Fäusten dem armen Dackelbesitzer mit Prügel. Gleich danach rücken zwei Kumpels aus Gründen gemeinsamer Motivation und unter Ausnutzung der gesamten Straßenbreite zum Spitzenreiter Tassilo auf, um ihm für die nächsten 17 Serpentinen Mut zuzusprechen.

 

Derweil überholen sie eine weibliche Radfanatikerin, die alleine für ihr Hinterteil mindestens 5 Sättel benötigen würde und deren Waden den Bizepsumfang von Rocky um das Dreifache übertrifft. Dass die Dame, deren Gesicht sich bedenklich dem fluoreszierenden Rot ihres Renndresses angenähert hat, spätestens in Serpentine 4 ihr Leben auf dem Mittelstreifen der Straße aushauchen wird, spielt für die Stadt-Schwachmaten eine untergeordnete Rolle. Solche Opfer werden gerne in Kauf genommen, vorzugsweise bei 33 Grad im Schatten.

 

Von hinten nähert sich Mutti, die sich nun sputen muss, um vor Ladenschluss bei Edeka zwei Pfund Butter zu erstehen. Mit Schmackes nimmt sie die engen Kurven, die unter der Woche nur von ein paar einheimischen Bauern und ein paar Nachbarn frequentiert werden. Die Kavalkade kunterbunter Sesselfurzer, die nach Feierabend oder auf Dienstfahrten normalerweise gewohnt sind, dass man ihren 300 bis 500-PS-Boliden freiwillig Platz macht, fahren zu dritt nebeneinander und wuchten unter Inkaufnahme eines Herzinfarktes oder jähen Hirnschlages ihre Übergewichte in die Pedale. Mit einem Mittel von 7,3 Stundenkilometern nähern sie sich dem Schnittpunkt der Haarnadelkurve 3, während von hinten Mutti mit Pappas SUV flüssig die Kurven nimmt und sich sportlich an die nicht einsehbaren Spitzkehre heranarbeitet.

 

Was sie nicht weiß, ist die Tatsache, dass 7 lebensmüde Schwachköpfe mit den Ambitionen von Lance Armstrong und Jan Ullrich ausgestattet, sich aufgrund körperlicher Erschöpfung bei 15 Prozent Steigung ihrem Ende entgegen quälen. Aus Gründen der Kraftersparnis wird auch gerne mal die Straße diagonal und in Schlangenlinien durchfahren, zumal es den Thrill ins Unendliche steigert. Immerhin gibt es auch ambitionierte Motorradfahrer, die es gerne kurvig mögen und extreme Schräglagen sowie maximale Fliehkräfte austesten.

 

Schwamm drüber, da hilft auch kein Red Bull mehr. Denn gleichzeitig kommt aus entgegengesetzter Richtung ein ältlicher Schubidu mit einem Achtzigtausend-Euro-Cabrio und 30 Jahre jüngerer Freundin in forscher Geschwindigkeit den Berg herunter, während er lüstern und in froher Erwartung am Knie seiner Begleitung fummelt. Man möchte ein Stoßgebet zum Himmel schicken angesichts des sich anbahnenden Unglücks.

 

So oder so ähnlich kann ich inzwischen hundertfach erzählen, zumal ich genau in einer solchen Region lebe. Münchner Radsportfetischisten scheinen sich an Wochenenden vorgenommen zu haben, das Isartal mitsamt der ländlich geprägten Voralpenregion mit ihren suizidalen Neigungen zu terrorisieren. Und wenn sie es nicht mit ihren Zweirädern tun, dann mit ihrem Outfit. Dutzende dieser Sport-Papageien fallen durstig in Biergärten ein, indem sie ihre provozierenden Klöten wie eine Monstranz in Sporthosen vor sich hertragen und das Publikum an ihrer Manneskraft teilhaben lassen.

 

Und genau jene, gutverdienende Klientel, die sich Räder und Outfit im Wert eines Kleinwagens anschaffen können und dann in Kohortenstärke mit der Attitüde die Straßen okkupieren, als stünden sie ausschließlich für ihre Freizeit zur Verfügung. Ein häufig auftretendes Phänomen animiert mich zu folgender These. Je ausgeprägter die Wampe und je enger das grellbunte Leibchen, desto ambitionierter das Ziel, die oberbayerische Alpenstraße oder das Sudelfeld an einem Nachmittag abzufahren. Und wehe, man kommt diesen Freizeit-Extremisten als Autofahrer in die Quere. Da hilft kein Hinweis darauf, dass jene Zweirad-Anarchisten häufig Auslöser schwerster Unfälle sind und sich ungesehen verpissen, sofern sie nicht selbst unter der Karre liegen. Zumeist gehen maximale Rücksichtslosigkeit einher mit dem Bewusstsein, als Radfahrer immer auch im Recht zu sein.

 

Da sitzt man gemütlich im lauschigen Biergarten und verspeist einen Schweinsbraten mit Knödel und Endiviensalat, genießt mit jedem Gabelstich ins delikate Schwein die grandiose Aussicht auf den Watzmann, klackern 6 bis 12 kunterbunte Mettwürste in Richtung Nachbartisch. Mit schweißnassen Haaren und durchweichen Hemden, verbreiten sie ein Aroma wie eine Wildschweinherde und versauen einem selbst die beste Sauce. Ich frage mich, wer in solchen Fällen eigentlich für meine körperliche Unversehrtheit garantiert. Angesichts der Schweißorgie von nebenan traut man sich nicht einmal mehr, seinen Apero-Spritz zu Ende zu trinken.

 

Direkt vor meiner Haustür liegt eines der schönsten Barockklöster Oberbayerns. Man erreicht es über eine extrem schmale Straße, die sich in engen Kurven und einem Gefälle von mehr als 15 Prozent hinunterwindet. Für Autos sind dort 30 Stundenkilometer vorgeschrieben. Die Durchfahrt durchs Kloster, das unten im Tal liegt, ist extrem gefährlich. Auf der einen Seite die Schänke, auf der anderen Seite Kirche und Klosterbauten. Wie die Hornissen rasen die kleingeistigen Möchtegern-Sportler mit nahezu 70 Sachen durch das Anwesen, weil es gleich im Anschluss wieder steil nach oben geht. Fußgänger, Ausflugsgruppen, Klosterbesucher, genauer gesagt, Gesocks zu Fuß, die haben gefälligst die Augen aufzumachen.

 

Kein Polizist hält diese Idioten auf, aber wehe, man überschreitet mit dem Auto die 30-Kilometermarke. So scheint sich das Bewusstsein der Fahrrad-Terroristen allzu häufig zu bestätigen. Wer auf einem Drahtesel sitzt, der hat Recht. Wenn Tassilo, der Kamikaze-Radler, unterwegs keinem Unfall zu Opfer gefallen ist oder seinen Schwächeanfall überlebt und wieder in seinen Boliden gestiegen ist, erwirbt er automatisch wieder das Recht des Stärkeren – sozial wie ps-bestückt. Solch unappetitlichen Rabauken auf Rädern kann man nur noch Hirninsuffizienz bescheinigen.  

 

 

 

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